BUND-Kreisgruppe Essen

Sanfter Einstieg ins Thema: Von der Wachstumskurve zum Donut

Kate Raworth: Die Donut-Ökonomie (Doughnut Economics)

 (Carl Hanser Verlag)

Wenn man sich von dem seltsamen Titel nicht abschrecken lässt, bekommt man mit der „Donut-Ökonomie“ eine sehr leicht verdauliche Abrechnung mit den wesentlichen Kernkonzepten der aktuell vorherrschenden Volkswirtschaftslehre (VWL), der sogenannten „Neo-Klassik“, serviert. Gerade für Nicht-Ökonom*innen ist das von der britischen Wirtschaftswissenschaftlerin im Jahr 2018 veröffentlichte Buch sehr lesenswert. Denn wenn man mal die Mühe auf sich nimmt, ein typisches VWL-Lehrbuch aufzuschlagen, so stellt man meistens fest, dass die Autor*innen (meistens Männer) offenbar gar nicht erst den Versuch unternehmen, die Kernaussagen ihrer Disziplin verständlich zu präsentieren und logisch zu begründen. Nicht so Raworth. In sieben Kapiteln erklärt sie anschaulich sieben Kern-Paradigmen der geltenden VWL. Dann zeigt sie auf, wo deren Defizite liegen. Sie gesteht dabei durchaus zu, dass einige Defizite erst im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert erkennbar wurden. Aber sie fordert zurecht, dass die Ökonomie sich wie jede Wissenschaft weiter entwickeln muss und daher nun einer Modernisierung bedarf, damit sie der Politik auch im 21. Jahrhundert als Instrument dienen kann. Dieser Anspruch wird im Untertitel des englischen Originals nüchtern formuliert als „Sieben Arten wie ein Ökonom des 21. Jahrhunderts zu denken.“ Dagegen ist die deutsche Fassung etwas drastischer: „Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört“. Aus ihr wird auch erkennbar, warum ich dieses Buch hier vorstelle.

Zunächst umreißt sie den groben Rahmen und stellt dar, dass Politiker*innen, Unternehmer*innen, Journalist*innen, Aktivist*innen und auch „ganz normale“ Bürger*innen, die heute an politischen (und daher fast immer auch: ökonomischen) Entscheidungen für das Jahr 2050 mitwirken, dies auf der Basis von Ökonomie-Lehrbuchwissen tun, das aus den 1950er Jahren stammt, welches wiederum auf ökonomischen Theorien und Konzepten ruht, die in den 1850er Jahren oder davor entwickelt wurden. Hier sieht sie Modernisierungsbedarf und begründet dies schlüssig in sieben Kapiteln. Sie betrachtet dort

  • das Bruttoinlandprodukt (BIP) als „Maß aller Dinge“,
  • den „Markt“, der vom Mittel zum Zweck geworden ist,
  • das Menschenbild des „homo oeconomicus“, der rein egoistisch für sich immer das meiste rausholen will,
  • die mechanistischen Vorstellungen von „der Wirtschaft“, die zwar stets berechenbar, aber so stark vereinfacht sind, dass sie die Realität auch nicht annähernd abbilden,
  • das Problem der Ungleichheit, das in der neo-klassischen Theorie nicht vorkommt,
  • das Problem der Umweltbelastung, das in der neo-klassischen Theorie nicht vorkommt,
  • das Problem des unendlichen Wachstums in einer endlichen Welt.

Kapitel für Kapitel zeigt sie auf, worin die Stärken und die Schwächen der neo-klassischen Theorien liegen. Sie sind zum einen sehr eingängig (wie Raworth z. B. an der Wachstumskurve deutlich macht). Zum anderen geben sie den dominierenden politischen Konzepten der Nachkriegszeit eine „wissenschaftliche“ Rechtfertigung.

Als Naturwissenschaftler*in kann man über die schon fast als „kaltschnäuzig“ zu bezeichnende Lässigkeit nur staunen, mit der manche Kolleg*innen aus der Ökonomie ihre z. T. extrem vereinfachenden Modelle immer wieder heranziehen, um damit „die Welt zu erklären“. Raworth entlarvt dies auf höfliche, aber deutliche Weise.

So weist sie in Kapitel 1 („Bruttoinlandprodukt“) darauf hin, dass „der Vater“ dieses Konzeptes, der Ökonom Kuznets selbst schon in den 1930er Jahren darauf hingewiesen hatte, dass das BIP nichts über das Wohlergehen einer Gesellschaft aussagt — was aber Ökonom*innen, Politiker*innen  und Journalist*innen nicht daran gehindert hat (und immer noch nicht hindert), in einem wachsenden BIP das Maß aller Dinge zu sehen.

In Kapitel 2 macht sie auf verblüffend einfache Weise klar, dass Märkte zwar prinzipiell sehr gute Einrichtungen sind, um den Tausch von Waren und Dienstleistungen zu organisieren. Sie sind aber denkbar ungeeignet, wenn es darum geht, alle Facetten des menschlichen Zusammenlebens zu regeln oder gar den Bestand der Ökosysteme nachhaltig sicherzustellen.

In Kapitel 3 zeigt sie anschaulich, dass das Konzept des homo oeconomicus mittlerweile selbst von Ökonom*innen als unzureichend angesehen wird. Aber auch hier findet man immer wieder Einzelstudien, die sich darauf stützen, dass sich „die Marktteilnehmer*innen rational verhalten“. Eine sehr anschauliche Widerlegung dieses Konzeptes (von dem eigentlich jeder Mensch ohnehin weiß, dass es falsch ist) findet man bei Noam Chomsky. Der US-amerikanische Universalgelehrte erklärte einmal, dass sich entweder die Konsument*innen oder die Hersteller*innen irrational verhalten, vielleicht sogar beide. Denn wenn Konsument*innen nur rational entscheiden, dann dürfte die heutige Art der Werbung, die praktisch nur auf Emotionen setzt, nutzlos sein. Wenn die Werbung aber nutzlos ist, verhalten sich die Hersteller*innen irrational, da sie Geld für etwas ausgeben, das ihnen nichts nutzt.

In Kapitel 4 stellt Raworth die Verbindung zwischen den (neo-)klassischen Ökonomen und der Newtonschen Mechanik her. Sie berichtet von deren Wunschtraum, ihre Disziplin vom „Makel der Sozialwissenschaft“ zu befreien und sie – wie die Physik nach Newton – auf der Basis einfacher „Gesetze“ berechenbar zu machen. Das Problem ist, dass wir spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts wissen, dass selbst die Physik keineswegs so deterministisch ist, wie Newton und seine Zeitgenossen es vor rund 300 Jahren dachten. Quantenmechanik und Chaostheorie sind nur zwei Teilgebiete der Physik, in denen man mit der Vorstellung simpler mechanischer Abhängigkeiten nicht weiterkommt. Und auch zur Beschreibung ökologischer Zusammenhänge werden seit Jahrzehnten hochkomplexe Modelle verwendet – man denke nur an Klimamodelle! Dass ein mindestens ebenso komplexes System wie „die Wirtschaft“ mit mathematischen Modellen beschrieben werden kann, die noch nicht einmal zur Berechnung des realen Verhaltens eines Federpendels geeignet sind, können offenbar nur Ökonom*innen glauben.

Im fünften und sechsten Kapitel befasst sie sich mit den beiden größten Probleme unserer Zeit, der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit und der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Beide Aspekte kommen in den neo-klassischen Wirtschaftsmodellen nicht vor. Berechnet man ein „Pro-Kopf-BIP“ eines Landes, wird durch diesen Durchschnittswert völlig kaschiert, dass es auch innerhalb der Länder mit dem höchsten BIP bittere Armut und in den „Schlusslichtern“ extremen Reichtum gibt. Zusätzlich wurden alle möglichen „Modelle“ entwickelt, die zeigten, dass erst nach einem ausreichenden Anstieg der Wirtschaftsleistung eines Landes bestehende Ungleichheiten ebenso auf magische Weise verschwinden wie die durch Produktion, Handel und Verbrauch verursachten Umweltschäden. Heute wissen wir, dass die sog. „trickle down“-Theorie, wonach die Reichen viel bekommen müssen, damit sie den Armen ein bisschen abgeben können, wissenschaftlich genauso wenig belegbar ist wie die Idee, dass man sich Umweltschutz „leisten“ können muss.

Im letzten Kapitel widmet sie sich noch einmal der Wachstumskurve und entwickelt ihr Fazit, dass wir ein Wirtschaftssystem benötigen, dass unabhängig von ewigem Wachstum sein muss. Sie erklärt dies mit der empirischen Erkenntnis, dass zwar einerseits ein gewisses Maß an Wirtschaftswachstum notwendig zu sein scheint, um menschliche Not und Armut zu verringern. Andererseits konnte aber bisher noch kein Land die Umweltzerstörung beenden, während seine Wirtschaft immer weiterwuchs. Die große Aufgabe einer „Ökonomie des 21. Jahrhunderts“ besteht ihrer Meinung nach also darin, diesen Widerspruch aufzulösen und ein Wirtschaftssystem zu entwerfen, das menschlichen Wohlstand und eine intakte Umwelt langfristig sicherstellen kann.

Übrigens: Die zentrale Frage, warum das Buch nach einer ziemlich ungesunden Süßspeise benannt ist, klärt sich garantiert bei der Lektüre dieses auch für ökonomische Laien empfehlenswerten Buches.

Es ist auf Deutsch im Carl Hanser Verlag erschienen und kann übrigens in der Stadtbibliothek Essen (Zentralbibliothek) entliehen werden. Außerdem ist es in der Mediathek der Landeszentrale für politische Bildung NRW enthalten und kann somit dort gegen eine Bearbeitungspauschale von € 12,00 (Stand Juni 2020) bestellt werden (Tipp: Es können pro Jahr und Person bis zu sechs Titel aus der Mediathek bestellt werden). Das Buch ist derzeit kostengünstig zu erwerben (mit fünf weiteren Büchern zum Preis von 12 Euro). 

Man kann es natürlich auch im örtlichen Buchhandel erhalten - niemand muss „am Amazonas“ einkaufen. Meine bevorzugten Buchhandlungen sind übrigens Schmitz in Werden und Kape in Velbert-Langenberg - nicht nur, weil ich beide von zuhause oder vom Büro aus zu Fuß erreichen kann, sondern auch, weil mir hier sehr nette Menschen bisher immer kompetent und engagiert weitergeholfen haben. Welche ist ihre?

 

Ausblick:

Das nächste Buch, das hier besprochen werden soll, ist „Der Staat als Unternehmer“ von Mariana Mazzucato. Wie der Titel bereits andeutet, wird hier die Rolle des Staates und seiner Einrichtungen betrachtet. Auch in diesem Buch werden – ähnlich wie schon von Kate Raworth – einige Mythen „entzaubert“, die man uns in den letzten Jahren seitens der „mainstream“-Ökonomie aufgetischt hat.